Mich fragen fotografische Anfänger oft, wie man denn Motive sehen und erkennen kann. Wie kann man das lernen? Was ist fotografisches Sehen?
In der Tat ist es so, dass man sich einen großen Teil des fotografischen Sehens aneignen kann. Einen kleinen Teil trägt man aber in sich und diese Kreativität lässt sich schwierig erklären, geschweige denn lernen. Es ist wie musizieren. Noten und Theorie lassen sich lernen, aber das Gefühl, mit welchem man die Musik spielt kommt aus der Seele und liegt im Blut.
Das bedeutet aber nicht, dass man Sehen und Erkennen nicht erlernen kann.
FAKTOR ZEIT
Um ein Motiv an einem Fotospot zu erkennen bedarf es Zeit. Diese Zeit muss man sich nehmen. Keine Termine, keine Ablenkung. Konzentration und Achtsamkeit; ja redet der Raik denn jetzt wie ein spiritueller Lehrer?
Komme ich an einen Fotospot stelle ich meinen Rucksack ab und beginne NICHT mit dem Aufbauen von Stativ und Kamera. Vielmehr suche ich einen Platz zum Verweilen. Ich setze mich auf eine Bank oder einen Felsen und fange an zu beobachten. Ich versuche, mich auf diesen Platz einzulassen, ihn zu verstehen.
ANALYTISCHES SEHEN LERNEN
Globales Sehen
Richte ich meinen Blick geradeaus und schaue oberflächlich auf die Menge an landschaftlicher Information, werde ich überwältigt sein. Alle Eindrücke prasseln auf mich ein. Ein Motiv zu erkennen, wird schwer möglich sein. Wobei die Frage zu klären ist, was ein Motiv ist.
Ein Motiv ist in meinen Augen ein Teil einer Landschaft der meine Aufmerksamkeit angezogen hat und ich es so schön und zeigenswert finde, dass ich es festhalten möchte. Ein Motiv sollte in meinen Augen zu mir sprechen. Ein Motiv braucht eine würdige Komposition. Es sollte in dieser für sich stehen und das Umfeld sollte das Subjekt/ Hauptmotiv unterstützen.
Selektives Sehen
Je mehr Zeit ich an meiner Location verbringe, ohne aufs Handy zu starren oder mich mit Kameratechnik beschäftige und ablenkungsfrei bin, desto mehr werde ich sehen.
Für mich beginnt das selektive Sehen damit, dass ich abschnittsweise die vor mir liegende Natur ansehe. Ich zerlege Bereiche in Abschnitte. So, wie man ein Rinderfilet auch am Stück braten kann beginne ich damit, es in gleich große Teile zu zerschneiden. Und diese Teile der Landschaft einzeln betrachtet ermöglichen plötzlich Dinge zu erkennen, die man beim einfachen Hinsehen nicht entdeckt hätte. Es fallen Strukturen, Formen und Farben auf.
- Ich beobachte Wolken, wie schnell sie ziehen sie, welche Farbe sie haben.
- Ist es windig, was passiert mit Bäumen und Büschen? Bewegt sich Gras?
- Wie ist die Rhythmik von Wellen, wo brechen sie sich?
- Wie laufen sie ab, welche Strukturen hinterlassen sie im Sand?
- In welcher Erscheinung äussert sich das Licht, welche Qualität und Richtung hat es?
- Gefällt es mir?
Je länger ich sitze und beobachte, je mehr werde ich sehen.
Und somit erschließen sich Dinge, die ich in mein Foto packen möchte bzw. auf welche Dinge ich bei der Komposition und Belichtung achten muss.
INSPIRATIONSQUELLEN
Der Beginn meines fotografischen Weges in der Landschaftsfotografie war von Inspiration durch einige herausragende Bilder entfesselt worden. Inspiration heisst nicht unbedingt Nachmachen oder Kopieren, vielmehr bedeutet es, Eingebung, Beseelung oder Erleuchtung. Schon wieder spirituell Raik?
Es waren Bilder, die mich in der Seele getroffen haben, die mich berührt haben und in mir den festen Wunsch geweckt haben, das auch so können zu wollen. Doch vom reinen Wollen kann man es noch nicht.
Also habe ich damit begonnen, mich mit genau diesen Fotos auseinanderzusetzen. Ich habe lange davor gesessen, sie angehimmelt, sie aufgesaugt und versucht zu erkennen, warum sie mir gefallen.
Die Analyse um den Grund dafür warum ich ein Bild mag, bedingt Kenntnisse in der Gestaltungslehre.
Ich habe mich mit den Regeln der ästhetischen Bildkomposition beschäftigt und schnell konnte ich ein Muster in den Bildern entdecken, die mir so gefallen haben. Ziemlich schnell und unterbewusst habe ich einige dieser Bilder verinnerlicht und angefangen, wenn ich draußen zum Fotografieren war, diese Bildsprache in meine Fotos zu integrieren.
Inspiration oder Beeinflussung führt zur Weiterentwicklung. Maler und Musiker wurden von Vorbildern und Meistern ihrer Kunst inspiriert. Slash, der in meinen Augen beste Gitarrist unserer Zeit neben David Gilmour ist, wurde inspiriert von Hendrix und Jimmy Page. Es bedeutet nicht, er hat kopiert und klingt wie seine Vorbilder. Er hat seinen Stil daraus entwickelt.
MISS DICH MIT DEN BESTEN
Willst du deine Fotografie weiterbringen, möchtest du lernen Motive zu Sehen, dann miss dich mit den Besten! Schau dir herausragende Fotos an und überlege, wie sie aufgebaut sind. Wie ist der Fotograf mit dem Licht umgegangen, wie hat er die Komposition gewählt und die Elemente angeordnet. Welche Elemente sind im Bild zu finden. Sind es viele Elemente oder ist es eher einfach, reduziert und strukturiert aufgebaut.
Ich möchte euch auch ein paar Empfehlungen für gute fotografische Qualität geben.
Im Deutschen Sprachraum fallen mir ein paar Namen ein wie:
- Kilian Schönberger
- Dennis Polkläser
- Michael Breitung
- Stefan Hefele
- David Köster
- Kai Hornung
Dann wird es eng. Gerade auf YouTube wird es schwer, herausragend gute Landschaftsfotografen aus Deutschland zu finden, von denen man etwas vernünftiges lernen kann. Es geht immer wieder, einem Mantra gleich, um technische Dinge, Objektive, Kameras, Bildbearbeitung. Über den Umgang mit Licht, was ja der Werkstoff für unserer Fotografie ist, oder über Komposition und das Gefühl für gute Bilder wirst du nichts wissenswertes finden. Der Algorithmus zwingt zum wöchentlichen Veröffentlichen von Filmen. Darunter leidet der Content. Leider ist die deutsche Fotografie-Kultur extrem hardwarelastig und technisch dominiert.
Doch die Welt der englischsprachigen Fotokultur ist ein Eyeopener.
Ich empfehle dir Kollegen wie:
- Andy Mumford
- Nigel Danson
- Thomas Heaton
- Sean Bergshaw
- Michael Shainblum
- Erez Marom
- Marco Grassi
- Daniel Kordan
- Christian Hoiberg
- Marc Adamus
Hier findest die wirklich die Elite der modernen Landschaftsfotografie.
Schau dir Fotos von handwerklicher Brillanz und Können an. An diesen Beispielen kannst du lernen und wachsen. Mittelmaß wird dich nicht weiterbringen.
BEISPIELE
Zum Schluss möchte ich euch helfen, eine berühmte Location in Cornwall fotografisch zu zerlegen und ein mögliches Foto davon zu interpretieren.
Land´s End ist ein wundervoller Fotospot. Das Making of meiner Ausrüstung veranschaulicht, welche Elemente vorzufinden sind. Alles in ein Bild zu packen wir den Betrachter überfordern. Ich bin gute 2 Stunden vor Ort gewesen und habe das Licht beobachtet. Ich bin über die Klippen gelaufen um mir anzusehen, wie sich die Elemente dabei in ihrer Anordnung verschieben. Erst als alle Bildelemente losgelöst voneinander waren und sich im Bild nicht berührt oder überschnitten haben, war mein Standpunkt für das finale Foto klar.
Ich habe mich entschieden, die Häuser im Bildhintergrund auszublenden. Die Leuchtturminsel war mir ebenfalls zu viel. Ich mag Fotos, die einfach aufgebaut sind. Je weniger, desto besser.
Es ist wie beim Kochen, ein gutes Gericht brauch wenig Zutaten. Dafür aber eine gute Qualität der Rohstoffe. Ich versuche nur das in die Komposition zu nehmen, was wichtig ist. Was nichts beiträgt, hat nichts im Bild zu suchen.
Das Hauptmotiv ist für mich der Felsen in der Bildmitte mit dem Loch.
Die unterschiedlichen Ebenen wie Vorder-Mittel und Hintergrund geben dem Bild räumliche Tiefe. Der Betrachter kann über die Felsen im Vordergrund in das Bild einsteigen und fällt faktisch nicht ins Meer. Sie begrenzen ebenfalls das Bild in der unteren rechten Bildecke. Durch die Menge an unterschiedlichem Gestein und Strukturen beruhigt die Langzeitbelichtung die Wasseroberfläche. Ein unruhiges Wasser würde das Ruhen der Felsen im Meer zunichte machen. Durch die lange Belichtungszeit zeichnen sich die Strömungslinien ab und verleihen dem Wasser um die Felsen zusätzlich Eleganz.
Die Linienführung ist so gewählt, dass der Betrachter diagonal, wir lesen ja von links nach rechts, durch das Bild zum Licht geführt wird.
Der wunderschön farbige Sonnenuntergang, die Schleierwolken geben dem Bild oben einen Abschluss, ähnlich einem Deckel auf einem Topf. Sie zaubern zugleich einen wundervollen Farbkontrast.
Vom selben Abend habe ich nun noch ein zweites Bild für euch. Dieses könnt ihr nun zur Übung einfach selbst interpretieren.
LOCATION ANALYSIEREN
Dieses wundervolle Panorama ist an einem der ikonischsten Fotospots in den Abruzzen entstanden.
Wie du sehen kannst, habe ich das Pano in mehrerer Bildabschnitte aufgeteilt und zeige dir die fotografischen Möglichkeiten dieser Location unter den Aspekten der vorhandenen Bildelemente:
Wenn du mit uns zum Fotografieren verreist, sind solche Erklärungen ebenfalls Themen und Inhalt. Wir besprechen mit dir vor Ort deine Bilder, damit du live lernen kannst und deine Fotografie in neue Bahnen gelenkt wird. Deshalb betiteln wir unserer Fotoreisen als Masterclass.